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Tower Bridge London 2005

Diese Kurzgeschichte kann ich zeitlich nicht mehr genau zuordnen, wahrscheinlich irgendwann Mitte 2005. Die Idee war, einen inneren Dialog von zwei Menschen zu formulieren, die über ihr Leben nachdenken. Dabei sollte deutlich werden, wie sich die eigene Perspektive auf die Vergangenheit verändern kann. Nicht sicher, ob mir das gelungen ist, formal sicherlich verbesserungswürdig. Ich habe die zusammengehörenden Absätze kursiv gesetzt, um es etwas übersichtlicher zu gestalten. Außerdem habe ich ein wenig die Rechtschreibung korrigiert.

Tower Bridge London 2005

Plätschern…
Immer dieses Plätschern…
Das hatte er schon seit Anfang der Woche gehasst…
Jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit musste er diese Brücke überqueren, was eigentlich nicht weiter schlimm wäre, wenn eine Straße darunter verlaufen würde. Oder auch eine Autobahn. Oder eine Bahnstrecke. Aber nein, nichts als Wasser. Und dieses Plätschern… 

Dummerweise war das nun mal der kürzeste Fußweg in die Firma. “Für die kurze Strecke das Auto anzulassen lohnte nicht”, hatte seine Frau ihm dutzende Male gesagt und tatsächlich, am Montagmorgen war das Auto wohl auf den gleichen Gedanken gekommen und nicht angesprungen. Nur darum hatte er an diesem Morgen zu Fuß in die Firma laufen müssen. Und am Morgen darauf, und am Morgen darauf. Und genau deshalb musste er jetzt natürlich auch wieder zu Fuß nach Hause, weil er einige Unterlagen vergessen hatte. Dieses vermaledeite Plätschern raubte ihm wirklich noch den letzten Nerv…

Immer wenn er über diese Brücke ging, wurde ihm irgendwie ganz warm ums Herz. Und dieses leise Plätschern. Egal was ihm zuvor passiert war, ob es im Job schlecht lief oder wenn es Ärger zuhause gegeben hatte, irgendwie war das alles unwichtig in diesem einen Moment. Deswegen ging er so gern hier entlang. Eigentlich war es ja fast ein Umweg, denn über die Wilhelmsbrücke wäre er ein paar Minuten eher zu Hause. Aber weil die Hauptstraße über diese Brücke führt, könnte er da niemals das Plätschern hören. Und das war ihm den Umweg wert. Denn so begann jeder Arbeitstag schonmal positiv und entspannt. Er konnte sich nicht auch nur im Ansatz vorstellen, warum jemand morgens lieber mit dem Auto ins Büro raste und wissentlich dieses tolle Erlebnis umging.

Nicht nur, dass es zu Fuß viel länger dauerte. Nein, als ob das nicht ausreichte, mußte er natürlich ausgerechnet heute noch verschlafen. Als hätte er es nicht eh schon eilig genug. Und in der Eile hatte er dann die Akte auf dem Schreibtisch vergessen. Natürlich nicht irgendeine möglicherweise vernachlässigbare Akte sondern genau die Akte, die er bis heute Abend überarbeitet bei seinem Chef einreichen mußte. Welche auch sonst? Und so mußte er also in seiner Mittagspause schnell nach Hause. Um diese Akte zu holen. Damit fiel natürlich das Essen aus. Mal wieder. In letzter Zeit kam da ja fast immer etwas dazwischen. Erst letzte Woche hatte man die Kantine wegen Umbau geschlossen und die Mitarbeiter waren aufgefordert wurden, sich doch ihre Mahlzeiten übergangsweise von zu Hause mitzubringen. Zum Glück wurde wenigstens der Automat mit den Schokoriegeln immer gut bestückt…
Erst jetzt bemerkte er am anderen Ende der Brücke eine Person, die in seine Richtung lief. Auch das noch…

Natürlich war der Fußmarsch etwas langwieriger. Aber das machte ihm nichts aus, er plante es einfach ein, ging in der Früh etwas eher los und brauchte abends ein paar Minuten länger. Freilich wenn er es eilig hätte, dann wäre es sicherlich störend den Weg zu Fuss gehen zu müssen. Aber zum Glück war er ja fast nie in Eile. Alles eine Frage der Planung. Darum hatte er auch eine längere Mittagspause einlegen und gemütlich zu seinem Lieblingsitaliener unten an der Ecke spazieren können. Jetzt war er satt und ging zufrieden zurück zur Arbeit. Das Essen bei Gino war tausendmal besser als der Fraß in der Kantine. Und letzte Woche hatte er sogar mal das griechische Spezialitätenrestaurant mit ein paar Kollegen ausprobiert, die sonst immer in die Kantine gegangen waren. Aber dort war ja gebaut worden.
Warum soll man da noch sein eigenes Essen mitbringen?
Viele Leute waren um diese Zeit hier nie unterwegs… und doch bemerkte er da doch jemanden, der offensichtlich auf ihn zu kam.

Nun schau dir das an. Er ist es tatsächlich. Der hatte gerade noch gefehlt. Seit Jahren hatte dieses Gesicht nicht mehr gesehen und er hatte das auch nicht im Geringsten vermisst. Er kannte diesen Mann, der da auf ihn zukam von seiner Schulzeit her. Lange hatte er gebraucht um das zu verarbeiten. Damals war er ständig das Ziel von Idioten gewesen, die meinten sich vor allen anderen profilieren zu müssen. Und das war immer einfacher mit einem Ziel, das sich nicht zur Wehr setzte. Genau solch ein Ziel hatte er wohl für den da dargestellt. Er wurde verprügelt. Immer und immer wieder. Aber das war nicht mal das schlimmste. Schlimmer war das Gefühl regelmäßig vorgeführt zu werden. …Die seelische Gewalt… Damals hatte er nichts dagegen unternehmen können. Und er hatte auch niemals erfahren, warum er es getan hatte. Das ging einige Monate so, bis seine Eltern darauf aufmerksam wurden, dass ihr Sohn sich zurückzog. Dann hatte er alles gebeichtet. Daraufhin mußte er noch lange Zeit mit Psychologen reden, die ihm sagten, warum das möglicherweise passiert ist. Das er sich in die Opferrolle hatte bringen lassen und sich daran gewohnt hatte. Ziemlicher Schwachsinn. Aber er, der Übeltäter, er hatte nie gesagt warum er ausgerechnet ihn gequält hatte. Keine Silbe. Und dann wechselte er die Schule, besser war es wohl auch gewesen. So konnte er das alles verarbeiten und auch vergessen. Ein neuer Anfang…

Irgendwie kam ihm dieses Gesicht bekannt vor. Aber woher… Möglicherweise aus der Schule früher? Damals war er eine Zeit lang ziemlich gewalttätig gewesen. Seine Eltern hatten sich getrennt. Schon vorher hatte er nie viel Aufmerksamkeit bekommen. Doch durch die Scheidung waren die beiden nur noch mit sich selbst beschäftigt. Und so suchte er sich seine Bewunderung und Aufmerksamkeit auf dem Schulhof. Indem er andere Jungs vermöbelt hatte. Da war doch dieser eine… ja, ein Junge, der sich niemals verteidigt hatte. Das hatte ihn damals erst recht wütend gemacht, so dass er diesem Jungen immer wieder aufgelauert hatte. Oh Gott, ja … genau das war der Junge gewesen. Dieser Mann dort war damals sein bevorzugtes Opfer. Er hatte danach nie ein Wort mit ihm gewechselt. Aber er konnte sich noch ganz gut erinnern: Eines Tages mußte er mit seinen beiden Eltern (und es war ein Wunder, dass sie tatsächlich beide erschienen waren) in der Schule auftauchen und sie erzählten ihnen, was ihr Sohn angestellt hatte. Kurz darauf mußte er auf eine andere Schule gehen. Daraufhin war das Verhältnis zu seinen Eltern noch viel schlechter, vor allem zu seinem Vater. Der hatte dann auch die Idee mit dem Internat.
Das hatte ihn dann für sein ganzes Leben geprägt…

Millennium Bridge London 2005Beide gehen aufeinander zu, aber ihre Blicke treffen sich nicht.

“Was soll ich nur sagen. Soll ich überhaupt was sagen.”
“Ich könnte einfach so tun als hätte ich ihn nicht erkannt.”
“Vielleicht will ich gar nicht mit ihm reden. Oder doch?”
“Vielleicht will er gar nicht mit mir reden. Oder doch?”
“Ich könnte ihn einfach grüßen und sehen wie er reagiert”
“Wie er wohl reagiert, wenn ich ihn einfach kurz grüße?”
“Ach nein, ich schaue ihn einfach an, damit er weiß, dass er am Zug ist…”
“Vielleicht schaue ich ihn einfach an, er wird schon was sagen, wenn er mit mir reden will…”
“Ja, so mach’ ich’s.”
“Ja, so mach’ ich’s.”

“…”
“…”

Beide gehen wortlos aneinander vorüber. Sie sehen sich in die Augen. Das Wasser plätschert vor sich hin.

“Was nun?”
“Was nun?”

Sie gehen aneinander vorbei. Keine Reaktion. Kein Zucken im Mundwinkel. Keine Ton. Nur Plätschern.

“Puh, scheint mich nicht erkannt zu haben…”
“Puh, scheint mich nicht erkannt zu haben…”

Wenn er jetzt so richtig darüber nachdachte, dann war das wirklich ein Glücksfall für ihn gewesen. Kurz nach diesen Zwischenfällen kam ein neues Mädchen in die Klasse. Schon am ersten Tag als sie den Raum betrat hatte er dieses eigenartige Gefühl in der Magengegend. Sie hatte lange dunkle Haare und blaue Augen. Zu dem Zeitpunkt wußte er es natürlich noch nicht aber rückblickend hatte er es vom ersten Moment an gefühlt. Das ist SIE!
Trotzdem war er immer noch derselbe schüchterne Junge und obwohl sie direkt vor ihm saß dauerte es zwei Wochen bis er sie endlich ansprach. Dann dauerte es weitere drei Monate bis sie sich zum ersten Mal verabredeten. Er hatte es zeitlebens nicht besonders eilig gehabt, war immer ein bißchen spät dran, im übertragenden Sinne.
Die gesamte Sommerferien verbrachten sie zusammen und dann, im nächsten Schuljahr saßen sie zusammen am selben Tisch. Nach der Schule gingen sie beide zusammen zur Uni, nahmen sich eine Wohnung und eines verregneten Herbsttages versprachen sie sich gegenseitig ewige Treue nachdem sie sich wegen strömendem Regens in eine kleine Abtei gerettet hatten. Zwei Jahre später taten sie das nochmal am exakt selben Ort allerdings trug er dabei einen Anzug und sie ein weißes Kleid…
Es war perfekt…
Bald fand er einen Job bei dieser Versicherung und kurz darauf kam Luca zur Welt, seine erste Tochter. Er hatte endlich eine Familie. Seine eigene Familie…
Und da war er nun. Mitte 30 und auf dem Weg nach Hause. Sein Zuhause.

Ja, das war damals echt ein tiefer Einschnitt gewesen. Und er hatte es auch nicht lange im Internat ausgehalten. Nach knapp einem Monat entschloss er sich die Flucht nach vorn anzutreten und riß aus. Mit einem alten Seesack wanderte er durch die Lande und lebte auf der Straße. Er hatte in diesen Jahren wohl jede Bahnhofsmission, jede Ausnüchterungszelle und auch sonst jede dreckige Ecke des Landes kennengelernt.
Als er davon die Schnauze voll hatte nahm er seine sieben Sachen und heuerte als Matrose auf einem Frachter an. Dann schipperte er zwei Jahre quer über den Erdball. In Amerika verliebte er sich dann in ein Mädchen, das war in Miami.
Ihr Name war Clara. Leider hatten Clara’s Eltern wohl etwas gegen Ausländer, besonders gegen arme Ausländer die auf Schiffen von weit her kamen um ihren Kindern die Köpfe zu verdrehen. Deshalb machten ihm der Patriarch der Familie nebst Verstärkung auf althergebrachte amerikanische Art (sie lauerten ihm im Dunkeln mit allerlei Handfeuerwaffen auf) klar, dass er doch möglichst schnell wieder sein Glück auf See suchen sollte. Was er dann schweren Herzens auch tat.
Wieder zurück in Deutschland hatte er dann eine Offenbarung, eine Eingebung aus heiterem Himmel, die ihn förmlich wie ein Schlag traf…
Als er dann aber einige Tage später im Krankenhaus erwachte, erfuhr er, dass er von einem Auto angefahren wurde und der Fahrer geflüchtet war. Zurückbehielt er eine Beinverletzung, die es ihm unmöglich machte, weiter als Matrose zu arbeiten. In exakt diesem Krankenhaus fand er dann auch eine Stelle als Reinigungskraft. Übergangsweise.

Ja, er hatte eigentlich alles, was er sich je gewünscht hatte, erreicht. Und er hatte allen Grund mit Zuversicht in die Zukunft zu blicken. Rückblickend war er fast ein bißchen stolz auf sich und sein Leben. Und auf den Weg, den er gegangen war. Denn er hatte ihn ans Ziel gebracht. Genau wie dieser Weg hier ihn ans Ziel bringen würde. Eigentlich ein sehr schöner Weg. Er sollte doch viel öfter mal zu Fuß in die Firma gehen. So lang war der Weg ja gar nicht. Und an einem so schönen Tag machte es richtig Spaß fernab vom Streß ein wenig die Natur zu genießen. Das Säuseln des Windes in den Bäumen, das Zwitschern der Vögel … und das Plätschern des Flusses. Da konnte einem richtig warm ums Herz werden. Es klang fast ein wenig wie Musik, dieses leise Plätschern…

Rückblickend war sein Leben bis jetzt ziemlich beschissen gelaufen. Nichts war wirklich so passiert, wie er es sich gewünscht hatte. Im Gegenteil, hatte ihm das Schicksal oft noch zusätzlich eine reingewürgt. Und er hatte wirklich jeden Grund skeptisch in die Zukunft zu blicken. Denn er wußte nicht wohin ihn sein Weg noch verschlagen würde. Was war seine Aufgabe, sein Zweck ihn diesem Leben? Er konnte nur hoffen, dass er es noch herausfinden würde. Irgendwann…
Wird die Suche irgendwann aufhören? Hörte denn diese dusselige Brücke nie auf? Warum ging er eigentlich immer über diese uralte Brücke…
Durch die Stadt wäre er doch viel schneller am Ziel…
Und dann müßte er auch nicht die ganze Zeit dieses nervtötende Plätschern ertragen…

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